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Stillstand

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  • Beitrags-Kategorie:Ozeanien

Ich wollte euch noch so viele Bilder zeigen. Vom wilden Tal der Rakaia Gorge, vom türkisfarbenen Wasser des Lake Tekapo, von den samtbezogenen Hügeln am Cardrona Pass. Das wird wohl leider nicht mehr passieren. Ich stehe gerade kurz vor den Tränen, aber ich habe heute meine Campervantour über die Südinsel storniert. So viel ist passiert seit meinem letzten Bericht, in dem ich noch Hoffnung hatte, wenigstens in Neuseeland einige Monate weiterreisen zu können. 

Ich hatte euch ja bereits erzählt, was sich zuletzt in meinem Hostel in Auckland abspielte. Dass die Zimmer immer leerer wurden, dass keine neuen Backpacker mehr hineingelassen wurden. Im Laufe meines letzten Tages in Auckland kamen neue Meldungen: Große Airlines streichen ihren kompletten internationalen Flugplan ein, die neuseeländischen Grenzen werden nun völlig dicht gemacht. 

Diese Nachrichten ließen uns übriggebliebene Backpacker ratlos zurück. Aber wie das in Extremsituationen so ist, rücken die Menschen dann oft zusammen (metaphorisch, physisch darf man das ja nicht mehr). In unserem Hostel in Auckland fand sich schnell ein deutscher Stammtisch zusammen. Der erste Krisenrat.

Susan, Pascal, Anja, Isabel, Paula, Kilian, Anne. Manche gerade erst angekommen, manche seit Monaten hier, einige als Touristen, die anderen mit dem Working Holiday Visum. Wie geht es nun weiter? Unsere Gruppe war zwiegespalten: Ein paar wollten so schnell wie möglich einen Flug nach Hause buchen, wir anderen erstmal die Füße still halten. Auch die Krisengespräche mit der Heimat brachten ähnliche Ergebnisse: Manche Eltern forderten ihre Kinder auf, sofort zurückzukommen, andere wollten auf keinen Fall, dass diese jetzt nach Deutschland aufbrechen. 

Alles endete in einer Frage: Wann geht der letzte Flug nach Deutschland? 

Nachdem alles gesagt und doch nichts beantwortet war, entschlossen wir uns dazu, albern statt ratlos zu sein. In der Lobby des Hostels steht eine riesige Kleiderspendenbox. Die brachte uns auf den Gedanken, dass wir uns ja vielleicht mit etwas Winterkleidung ausrüsten sollten, wenn wir schon Gefahr liefen, in Neuseeland überwintern zu müssen.

 

Ja, ok. Wenn man es genau nehmen will, haben wir das Rote Kreuz bestohlen. Zu meiner Verteidigung drei Dinge: Erstens war die Box so voll, dass ich nicht glaube, dass die Hostelmitarbeiter jemals Sachen tatsächlich beim Roten Kreuz vorbeigebracht haben. Zweitens werde ich die Kleidung vor meiner Abreise aus Neuseeland dem Spendenkreislauf wieder zukommen lassen. Drittens hat mir die Jacke schon gute Dienste getan, denn hier wird es gerade abends wirklich ungemütlich.

Der Spendenboxabend in Auckland war das bislang letzte Highlight meiner Reise. Am nächsten Morgen trennten sich die Wege unserer Gruppe. Für Susan und Pascal ging es nach Norden. Isabel, Paula und Kilian blieben in Auckland um möglichst bald Flüge nach Deutschland zu bekommen und Anja und ich setzten uns in den Bus nach Taupo, einem Ort in der Mitte der Nordinsel.

Ich durfte zum Glück ohne Probleme in meinem Hostel einchecken. Nach den Erlebnissen in Auckland hatte ich mir etwas Sorgen gemacht. (Anja war übrigens leider in einem anderen Hostel untergebracht.) 

Meine Stimmung litt sehr unter dem Ortswechsel. Auch in diesem Hostel viel Leerstand, aber noch jede Menge Deutsche. Die haben mich im Gegensatz zu meiner Truppe in Auckland total kirre gemacht. Aus jeder Ecke hörte ich die Diskussionen, die Telefonate: „Wie kommen wir so schnell wie möglich nach Hause?“ „Wir können hier nicht bleiben.“ „Bald gibt es keine Flüge mehr und wir stecken hier fest.“

In den diversen Facebookgruppen, denen ich inzwischen beigetreten bin, tobt ein Kleinkrieg zwischen Hierbleibenwollern und Sofortheimkehrern. „Die Bundesregierung hat alle Deutschen aufgefordert, heimzukommen. Unverantwortlich, wer jetzt hier bleibt. Wollt ihr dem neuseeländischen Staat auf der Tasche liegen? Selbst schuld, wenn ihr hier stecken bleibt“, sagen die einen. 

Die anderen erwidern: „Internationale Reisen sollen unterbunden werden, wieso soll ich dann jetzt um die halbe Welt reisen? Wieso soll ich in ein Krisenland zurückkehren, wo hier die Situation noch einigermaßen auszuhalten ist? Es ist wahrscheinlicher mich und andere mit Corona anzustecken, wenn ich jetzt über drei Flughäfen nach Hause fliegen muss.“  

Fakt ist, es wird zunehmend schwieriger Flüge zu finden. Quantas fliegt nicht mehr, Australien verbietet ab Mittwoch selbst den Transit über australische Flughäfen. Emirates hat soeben seine Flüge nach Deutschland eingestellt. Andere Airlines streichen links und rechts ihre Verbindungen zusammen. Flüge, die auf entsprechenden Internetportalen angezeigt werden, gibt es in der Realität gar nicht. Wer nicht bereit ist, viermal umzusteigen, muss Tausende Euro berappen. Die deutsche Botschaft rät inzwischen, gar  nicht mehr online zu buchen, sondern an den Flughafen zu fahren und dort die Schalter abzuklappern. 

Und immer noch die gleiche Frage: Wann geht der letzte Flug nach Deutschland?

Nach meiner ersten Nacht in Taupo wachte ich zu der Nachricht auf, dass die neuseeländische Regierung dazu auffordert, dass alle touristischen Reisen im Inland unterlassen werden sollen. Es war also das eingetreten, was alle befürchtet hatten. Dass nun auch in Neuseeland das öffentliche Leben zum erlahmen kommt. Ein herber Schlag auch für mich, wollte ich doch meine Zeit hier nutzen um möglichst viel vom Land zu sehen. 

Mehr als zwei Tage hatte ich nur drinnen gesessen, nur recherchiert, diskutiert, gegrübelt. Ich musste mal raus. Egal wohin. Statt große Wandertouren zu unternehmen, wie ursprünglich geplant, lief ich einfach zum Lake Taupo, und lief und lief und lief. 

 

Heute war ein regnerischer Tag. Heute stornierte ich meinen Campervan. Ich habe so mit mir gerungen. Aber wenn die Regierung sagt, Touristen sollen nicht im Land herumtingeln, dann muss ich mich daran halten. Wer weiß, ob nicht in ein paar Tagen Strafen gegen Leute verhängt werden, die im Campervan erwischt werden. Im Moment ist alles möglich.

Am Nachmittag traf ich Anja wieder. Das tat so gut. Wir sind ja im gleichen Boot. Anja will hier auch nicht weg. Anja hat auch keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Anja weiß auch nicht, wann der letzte Flug nach Deutschland geht. Wir waren zusammen erstmal im Supermarkt. Auch hier natürlich inzwischen die Coronaauswirkungen. Vor dem Markt eine Reihe mit Desinfektionsmittelspendern. An den Regalen vieler Waren (Klopapier, Nudeln, Reis, Mehl) Rationierungsschilder: Nur ein, nur zwei Pakete pro Kunde. Gib Hamstern keine Chance.

Morgen geht es für mich nach Wellington weiter. Aktuell sollen die Busse wohl noch fahren. Statt nach einer Woche Wellington weiter auf die Südinsel zu reisen, werde ich jetzt wohl in Wellington bleiben. Vielleicht suche ich mir dort mit ein paar anderen Leuten ein Airbnb. Die Preise dafür gehen gerade in den Keller. 

Vielleicht bin ich in einer Woche aber auch schon zu Hause. Wer weiß das schon. Ich habe für mich inzwischen entschieden, erstmal nicht aktiv nach Rückflügen zu suchen. Ich will hier trotz allem nicht weg. Auch wenn das Leben hier schwieriger wird. Ich habe in Deutschland aktuell nichts. Keinen Job, keine Wohnung. Und wie soll ich beides jetzt finden? Ich kann keine Familie besuchen, keine Freunde, keine Kollegen. Meine Katze ist tot. Mein Auto müsste erstmal in der Werkstatt wieder fit gemacht werden. Aber die hat bestimmt sowieso geschlossen. 

Bitte versteht mich nicht falsch. Natürlich würde ich mich an alle Bestimmungen halten. Natürlich will auch ich, dass die Ausbreitung des Virus verlangsamt wird. Aber es macht mir Angst, was da gerade in Deutschland passiert. Was ihr alle durchmachen müsst. Mir ist klar, dass meine Probleme dagegen lächerlich sind. 

Und damit wären wir beim Kern aller meiner Gedanken: Hier in Neuseeland kann ich das Abenteuer wenigstens noch leise rufen hören. Auch wenn der Ruf zu einem Flüstern geworden ist. Hier kann ich noch Neues erleben. Auch wenn das Neue noch so klein ist. Ich habe noch nicht abgeschlossen.

Nein, ich werde in den nächsten Tagen nicht nach Flügen suchen. Aber ich habe mich auf die Rückholliste für Deutsche aus Neuseeland eingetragen. So wie es aussieht, könnte die Rückholaktion in den nächsten Tagen/Wochen tatsächlich nach Neuseeland ausgeweitet werden. Und diesen Flug werde ich dann wahrscheinlich nehmen. Was bleibt mir anderes übrig?

Denn vielleicht ist er das dann: der letzte Flug nach Deutschland.  

Dieser Beitrag hat 8 Kommentare

  1. Christina

    Liebe Anne,
    habe gerade im Fernsehen etwas zum Thema Rückholaktionen gesehen und an Dich gedacht. Wer hätte bisher geglaubt, dass es auch in Neuseeland Probleme gibt.
    Viele Grüße ans andere Ende der Welt. Bleib gesund.
    Christina

    1. Anne

      Hey Christina, das ist aber nett, dass du mir hier schreibst 😀 Ja, leider sperrt sich die neuseeländische Regierung gerade etwas unverständlicherweise gegen die Rückholflüge. Wir sind hier trotzdem weiter zuversichtlich, dass die Aktion bald anläuft. Viele liebe Grüße zurück 🙂

  2. Christine

    Hallo liebe Anne,
    viele Grüße aus Kolkwitz senden Dir Christine, die Cousine Deines Papas, nebst Enkelin Lena.
    Wir haben Deine Reiseberichte mit großer Freude verfolgt. Die waren wirklich ausgesprochen interessant und anschaulich. Nun soll Dein Abenteuer so ein schnelles Ende finden. Das ist wirklich sehr, sehr traurig. Du hast ja in die Vorbereitung und Durchführung dieser Reise sehr viel Mühe und Anstrengung gesteckt.
    Das Wichtigste jedoch ist erst einmal, dass Du gesund bleibst und irgendwann mit Hilfe einer eventuellen Rückholaktion wieder glückklich in Deutschland landen kannst.
    Also sei weiterhin so tapfer und viele Grüße von uns allen.

    1. Anne

      Hallo Christine und Lena, vielen Dank für die Wünsche aus der Ferne. Ich habe lange mit mir gerungen und wollte nicht einsehen, dass mein Abenteuer nun zu Ende geht. Inzwischen sehe ich es so: Es wird nur eine Pause sein. Wenn die Welt wieder in ihre Fuge geraten ist, werde ich meine Reise fortsetzen. Man muss alles positiv sehen 🙂

  3. Mama

    Ich habe deinem Empfinden und auch der Meinung von Oma und Opa nichts hinzuzusetzen. Ich vertraue dir und weiß, dass du das Für und Wider sorgfältig abwägen wirst. Zur Zeit wird man aber auch von Entwicklungen überrollt. In Neuseeland fangen die Einschränkungen erst an, die in Deutschland schon längst zum Alltag gehören. Ich drücke dich ganz fest.

    1. Anne

      Danke Mutti, inzwischen haben die Einschränkungen Neuseeland ja auch volle Wucht erreicht 🙁

  4. Oma & Opa

    Hallo Anne, wie sehr haben wir bisher Deine Reiseberichte begierig erwartet und uns mit Dir über alles freuen können. Wer hätte das gedacht, das so kleine Viren die Welt aus den Fugen bringt. Um so mehr bedauern wir die jetzt so jäh herein gebrochene Lage der Dinge. Für den Fall, dass auch bei Euch jegliche touristische Aktivitäten unterbunden werden, möchten auch wir Dir raten vorher einen Ort zu erreichen,
    von dem Direktflüge nach Deutschland bei einer evt. Rückholaktion möglich sind.
    Behalte weiterhin einen kühlen Kopf bisher hast Du immer alles richtig gemacht. Toi,toi toi

    1. Anne

      Hallo Oma und Opa, und wie sehr würde ich gerne weiter Blogeinträge für euch schreiben. Aber inzwischen ist ja recht klar: Wir werden uns alle noch eine Weile gedulden müssen, bis ich hier wieder loslegen kann 🙁

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